9. Mai 2011

Kritik: Der weiße Hai


Es zählt wahrscheinlich zur Charakteristik sogenannter Meilensteine der Filmgeschichte, dass sich ihre Rezeption im Laufe der Jahre ändert, und sie zumeist erst später jene Würdigung  in der Kritik erfahren, die ihnen das Publikum an der Kasse schon viel früher ausgesprochen hat.
Auch JAWS ist ein solcher Fall; eines jener Werke, die lange Zeit auf ihren popkulturellen Status herunter gebrochen, und auf das geschickte Spiel mit Mechanismen des Genres,  die Spielberg hier ebenso benutzt, wie auch weiter ausbaut, reduziert wurden, und die dem Film doch nicht allumfassend gerecht geworden sind.

Was an seiner Oberfläche als funktionale Vermischung von Seemannsmärchen und den Ausflüssen amerikanischer Tierhorrorfilme innerhalb eines realistischen Rahmens erscheint, erweist sich bei genauerer Betrachtung als durchaus doppelbödige Gesellschaftsstudie nebst Auseinandersetzung mit einem amerikanischen Trauma.
Zeigte Spielberg in seinem Debüt DUEL -mit welchem der Film nicht nur eine inhaltliche, sondern auch eine gewisse formale Nähe teilt- sich vor allem an der wachsenden Paranoia eines einzelnen Menschen innerhalb einer Extremsituation interessiert, weitet JAWS das Spektrum nun als unvermeidliche Konsequenz aus: Hier geht es um Gruppen und deren Psychologie; zuerst im globalen Raum einer klassischen Kleinstadt, später um ein verwegenes Trio auf einem Boot.

Auffallend ist dabei die recht strikte Trennung in zwei voneinander nahezu losgelöste Teile: In seiner ersten Hälfte formuliert Spielberg vor allem den Hintergrund seiner Hauptfigur Brody aus, und setzt dessen Motivation als Hai-Jäger in engen Kontext mit seiner Rolle als Familienvater (ein Motiv, dass sich in noch stärkeren Maße im späteren Œuvre des Regisseurs wiederfindet), aber auch als gesellschaftliche Selbstfindung in Szene: Für den aus der Großstadt zugezogenen Polizeichef ist die Treibjagd auf den Mörderfisch immer auch Institutionalisierungprozess innerhalb der ihn argwöhnisch beobachtenden Provinz, deren Feuertaufe er scheinbar erst mit Ablauf der Credits wirklich bestanden hat.
Unnachgiebig legt Spielberg dabei die Gefahr des bürgerlichen Mikrokosmos offen, der in seinem Habitus aus Verdrängung und Schnellschlüssen dazu neigt, sich selbst zur größten Gefahr zu werden. Die Kapitalismus-Parabel vom skrupellosen Geschäftsmann, die sich JAWS an dieser Stelle gönnt, avancierte zwar gewissermaßen zu Genre-Blaupause, muss sich aber gleichwohl den Vorwurf gefallen lassen, schon damals eher abgegriffen und mit platten Klischees ausstaffiert worden zu sein.


Nach jener fast einstündigen Exposition, wechselt Spielberg das Setting, und wendet sich den Abenteueraspekten seiner Geschichte zu, ohne jedoch bereits angerissene Themen versanden zu lassen. Legt bereits die angespannte Situation an Land, eine gewisse Parallele zur Entstehungszeit des Films nahe, forciert vor allem das Szenario mit seiner Fixierung auf eine kleine, wild zusammengewürfelten Truppe Männer, die sich weit in das Territorium einer unberechenbaren Gefahrenquelle hineinwagt, eine Lesart, die einen Bezug zum amerikanischen Krieg in Vietnam herstellt. Einen Eindruck, den Spielberg in Dialogen über Erfahrungswerte vergangener Schiffsunglücke nebst Haiattacken ebenso chiffriert, wie auch bestätigt.

Zweifellos faszinierend -ob nun gewollt oder nicht- ist an diesem Film letztlich die Tatsache, dass JAWS aus heutiger Sicht weniger als Genrewerk, sondern vor allem wegen seiner intellektuellen Spielereien Freude bereitet; dass sich die mögliche Hommage an Hitchcocks LIFEBOAT bei der Zusammensetzung der Abenteurergruppe als Querschnitt der Bevölkerung als spannender erweist, als dessen Suspense-Mittel, die Spielberg hier gegen Ende über Gebühr beansprucht. Ob man JAWS deshalb nun als revolutionäres Creature-Feature, oder aber als konsequente Fortführung der Auseinandersetzung mit Versagensängsten und Männlichkeitskomplexen aus DUEL begreift: Sehenswert ist der Film allemal. 

7.5 / 10
erschienen bei: MehrFilm

12 Kommentare:

  1. Stresau hat mal ganz gut auf das topographische Strukturmodell verwiesen, nachdem Quint (Es), Brody (Ich) und Hooper (Über-Ich) die Zurückdrängung phallischen Blutdurstes in die Untiefen des Ozeans (das Unbewusste) unternehmen, wobei der Logik des Modells (und natürlich eines konventionellen Puritanismuses folgend) Quint sterben muss bzw. mit dem Phallus in die Tiefe gezogen wird, während die Norm und der Intellekt Hooper sich zurückziehen muss. Das Ich Brody muss die Einigung und diegetisch die Zurückdrängung erreichen. Wenn man bedenkt wie systemisch wichtig das für die kleinste funktionierende Einheit, die Familie, ist und wie sehr Spielberg dies immer wieder thematisiert, wird erkennbar wie dicht auch diese Anfangswerke an seiner später immer deutlicher herausgearbeiteten Grundaussage dran sind.

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  2. rom:
    @ Der Außenseiter
    Uff, über 8 Fachausdrücke in 13 Zeilen...Hey, das ist nur ein Film...:)Past aber gut zu dieser Seite.

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  3. @ Außenseiter: Spannender Ansatz; ich habe ähnliches schon einmal gelesen, müsste mich aber sowieso mal wieder näher mit Spielberg-Sekundärliteratur auseinandersetzen, um alles Aspekte seines Schaffens abdecken zu können.

    Spannend ist nach wie vor DUEL, der ja insofern Spielberg-untypisch ist, da er sich -zumindest meiner Meinung nach- eine positive Meinung zu Ehe und Familie eher ausspart, und schlussendlich sogar eine Lesart ermöglicht, die ein Ausbrechen des Protagonisten aus dem Käfig der Familie nahelegt.

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  4. @ rom

    Man kann dann schnell wie ein geschwätziger Wichtigtuer oder Klugscheißer wirken, aber zu überlegen, wie ich manche der komplexen Sachverhalte verständlicher bzw. weiter ausführend erklären könnte, kostet mich oft mehr Hirnschmalz, als es gleich so hinzuschreiben wie's mir einfällt. Diese Arbeit, auch wenn's unfair ist, mute ich dann natürlich dem Leser zu. ;)

    @ DUELL

    Ja, der Film ergibt seine Komplexität in den filmhistorischen Verlauf inkludiert. Das amerikanische Kino der 1960er war ja sehr mit dem Zerstören und Töten seiner männlichen Helden beschäftigt. Einer der Gründer des amerikanischen Helden schlechthin, John Ford, erledigt das mit DER MANN, DER LIBERTY VALANCE ERSCHOSS (1962) gleich selbst. Peckinpah mit SACRAMENTO (1962) und THE WILD BUNCH (1968). Ein in seiner Banalität sehr beeindruckender Tod des mythologischen Helden (eine Dekonstruktion in Ansätzen) gelingt Frankenheimer in DIE DEN HALS RISKIEREN (1969), fast wie ein Gegenentwurf zu Peckinpahs Todesoper. Spielbergs DUELL wirkt diesbzgl. dann natürlich reaktionär. Der Mann, der inzwischen unter dem Pantoffel steht, keine Frontier mehr zu sichern hat und die Zivilisation keine Möglichkeit der ursprünglichen Mannwerdung mehr bietet, erkämpft sie sich in einer Außenzone. Überhaupt lässt sich viel von John Ford in diesem Film finden. Der hat das Wüstensetting als existenzialistische Zwischenzone schon sehr früh als Handlungsort ins Kino eingeführt (manchmal historisch wie in DAS EISERNE PFERD, 1924), manchmal im Stile des absurden Theaters avant la lettre (WESTLICH ST. LOUIS, 1950). Nur anders als Fords Figuren ist Spielbergs Jedermann bereits in der Gesellschaft etabliert. Seine Ängste, seien es nun Kastrationsangst i.S. der Psychoanalyse oder Verlust männlichen Behauptungswillens i.S. evolutionspsychologischer Mechanismen, können nur durch das Kompetitive widererlangt werden. So unverständlich die moderne komplexe Gesellschaft im Vergleich zum verklärten Wilden Westen erscheint, so abstrakt und diffus ist die Bedrohung (ein Truck und ein Fahrer der als Chimäre erscheint) in ihrer Offensichtlichkeit. Die Aufsprengung der Gewahrwerdung dieser Fessel des Männlichen ist wie ein Befreiungsschlag, wo er hinführt, lässt Spielberg offen. Bei DER WEISSE HAI hingegen nicht. Da kann Brody nach bestandener Prüfung (er überwindet sogar seine Wasserscheu) zurück in die Familie. Er hat bewiesen, dass er ein Mann ist und darf nun zurück in den Schoss der Familie. Insofern könnte man auch dieses Ende als reaktionärer als DUELL betrachten, da der Blick Weavers am Ende auch einen Ausblick auf das neue Verständnis von Männlichkeit sein könnte, der sich im Zuge von Feminismus und Emanzipation ergibt. Der WASP muss seine Rolle neu definieren. Inwiefern Spielberg aussöhnender ist merkt man daran, dass sein Held nicht wie bei Segal oder Peckinpah in die existenzialistische Auflösung verschwinden muss. Peckinpah hat Sartre ja sogar gelesen, bei Spielberg weiß ich es nicht. Ach, jetzt verlier ich mich im Deutungsdschungel, sorry.

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  5. Deutungsdschungel ist nie verkehrt, so ab und an verliere ich mich auch darin (btw: mein Blog-Name wird auch viel zu wenig mit dem ironischen Augenzwinkern gelesen, das ich damals eigentlich im Sinn hatte :P).

    Ansonsten abermals sehr interessante Ausführung, die ich fast zu 100% in dieser Form unterschreiben würde, insbesondere das möglicherweise reaktionärere Ende von JAWS im Vergleich zu DUEL (den ich aber auch fernab davon als den besseren/interessanteren Film erachte), ist etwas, was mir erst bei meiner letzten Sichtung vermehrt aufgefallen ist.

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  6. Im Prinzip ist es natürlich sehr zu begrüßen, dass man bei einem so vermeintlich unbezweifelbaren Klassiker wie „Der weiße Hai“ wider den Stachel löckt. Sicherlich kann man auch vertreten, dass „Duel“ der wohl experimentellere Film ist, wobei ich allerdings an der unmittelbaren Vergleichbarkeit etwas zweifele.
    Ein paar Bedenken gegen die vom Außenseiter vorgetragene psychoanalytische Deutung möchte ich dann aber doch einwerfen. Mir scheinen diese sehr allgemeinen, recht schematisierenden Deutungen nach Art der Individualpsychoanalyse auf einer bestimmten Ebene zwar nicht völlig unbegründet zu sein, aber doch an den wesentlichen psychologischen und ikonologischen Elementen des Films vorbeizugehen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass viel zu viele Menschen an einem Drehbuch und der letztendlichen Filmfassung zusammenwirken, um ohne besondere Reflexion dieses Umstands die vor hundert Jahren von Freud entwickelte Dreiinstanzenlehre (Ich, Über-Ich, Unbewusstes) auf sie zu übertragen. Diese Lehre wurde für Individuen entwickelt, ihre Adaption als Interpretationshilfe für Kunstwerke durch diverse Geisteswissenschaften halte ich in vielen Fällen für problematisch.
    Damit möchte ich nicht sagen, dass man nicht psychologisch deuten sollte, im Gegenteil, aber den speziellen überindividuellen, historisch und genregeschichtlich bedingten Elementen wird man durch Individualpsychoanalyse nicht beikommen können. Zudem sollte man heute schärfer zwischen Psychologie und der inzwischen doch arg historisch geworden Freudschen Psychoanalyse unterscheiden, die in vielen Fällen wissenschaftlich unbewiesen geblieben ist, ja empirisch widerlegt wurde. Just my 2 Cents.

    Kurz: Ich glaube nicht daran, dass hier Brodys Überwindung der Kastrationsangst im Mittelpunkt steht, noch glaube ich an die Interpretation der drei Hauptfiguren entsprechend der drei Freundschen Instanzen. Schon gar nicht geht es Spielberg um die Stabilisierung der WASP-Familie. Ich will jetzt nicht alles Mögliche hier ausbreiten, aber nur soviel: Für Spielberg spielt die psychohistorische Deutung seiner jüdisch-amerikanischen Kindheit vermutlich die zentrale Rolle. Dies überschneidet sich mit den Impulsen aus dem etwas anders gelagerten Roman von Benchley, der dem Film zugrunde liegt.

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  7. @ Sieben Berge

    Also erst mal stimme ich Deinem Einwand weitgehend zu und begrüße ihn sogar. Ja, ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass ich eine regelrechte Abneigung dagegen habe, dass psychoanalytische Deutungen (vorschnell) an Werken vorgenommen werden und oft dann auch geglaubt wird, man habe die Möglichkeiten des Werkes damit dann ausgeschöpft. Der Grund meiner ablehnenden Haltung demgegenüber lässt sich aber nicht in einer Fehlerhaftigkeit psychoanalytischer Deutungsmöglichkeiten an sich finden, sondern zumeist in ihrer unsachgemäßen Handhabung. Ich hatte noch das große Glück die Vorlesung eines der wichtigsten Psychoanalytiker unseres Landes zu erleben, der gleichzeitig Verhaltenstherapeut war und in Verbindung mit Überlegungen der Psychoanalyse, ihrer reformierten Form, behavioralen Überlegungen, neurowissenschaftlichen Überlegungen, evolutionspsychologischen Überlegungen und der modernen Affektforschung eine grundlegend neue interdisziplinäre Theorie entwickelt hat, die sich leider nicht durchsetzen konnte, weil sie am Widerstand einer Gruppe scheiterte: den Psychoanalytikern, hah! Die möchten an ihrem Spielzeug nämlich in der Ur-Form festhalten und haben sich damit leider in genau die von mir so abgelehnte Richtung bewegt und spielen Geistes- und Kulturwissenschaftlern, die von der Psychoanalyse i.d.R. so viel Ahnung haben wie ich vom Pinguine züchten, noch in die Hände. Die Psychoanalyse ist ursprünglich nämlich eine streng affektorientierte biologische Angelegenheit, da Freud Neurologe und Psychiater war, aber wurde mit der Zeit immer mehr von der falschen Seite aufgezäumt. Leider glauben viele Geisteswissenschaftler (und auch Psychologen) die Psychoanalyse von ihren äußeren Ausprägungsgraden (Archetypen, kulturelle Symbole und Bilder etc.) rückwärts zu ihrem Ursprung interpretieren zu müssen. Tatsächlich spielen kulturelle Elemente bei der Entwicklung eines Menschen nur eine Rolle in der Interaktion der Mikroaffekte seit Anbeginn der ontogenetischen Existenz (ob bzw. wann die im Mutterleib beginnt, ist Gegenstand aktueller Forschung), den genetischen Anlagen und der biologischen Entwicklung vom ersten Moment an, wo die Haut außerhalb des Mutterleibes sensitiven Kontakt erfährt und bis zum Einsetzen des episodischen Gedächtnisses die Bewusstseinskonstruktion beginnt. Darum kümmert sich die Psychoanalyse eigentlich und da dies nicht-vorstellbare Prozesse sind, griff Freud auf unsere Kulturgeschichte zurück, um darauf zu verweisen, inwiefern sich Variationen solcher Prozesse der ersten nicht-bewussten Lebensjahre in allem vom Menschen geschaffen wiederfinden lässt. Dies ist ein strukturelles Prinzip, gilt für alle Menschen und hat mit einer individuellen Betrachtung erst mal nur bzgl. der individuellen Biographie zu tun. Vor einem unbewussten Konstruktivismus scheute Freud allerdings zurück. Das tatsächlich sämtliche physikalische Realität nur eine Repräsentanz unbewusster Vorgänge ist und wir bewusst keinerlei Einfluss nehmen können auf die Welt, war für einen Kantianer wie Freud und einen Menschen des 19. Jahrhunderts zu viel. Lacan griff das meines Wissens später noch mal auf, aber damit kenne ich mich nicht aus. Die Schlussfolgerungen, die Freud zog, die auf sich selbst verweisenden Thesen, sowie die daraus sich entwickelnde Therapieform steht natürlich noch mal auf einem anderen Blatt und da hat Freud mit Sicherheit viele Fehler gemacht und ist auch in manchem empirisch widerlegt worden. Dass er aber auch in zentralen Aspekten bestätigt wurde (erstmals sind die Neurowissenschaften auf der Spur des Unbewussten) wird seltsamerweise häufig unterschlagen.

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  8. Insofern, aber nicht nur deswegen, spielt es eigentlich zunächst keine Rolle, was Steven Spielberg oder ein anderer Beteiligter des Filmes sich während der Produktion und zum Film denken, da mit dem psychoanalytischen Ansatz (zumindest, wenn man es i.S. wissenschaftlicher Überlegungen betreibt) eher menschliche Grundelemente des Verhaltens angesprochen werden. Der durch biologische hormonelle Grundlagen und durch soziale interaktionistische Affektbesetzung am Körper des Mannes befindliche Penis wird, schon allein aufgrund dichotomer Distinktionsverhaltensweisen, vom männlichen Kind immer als Symbol für das Männliche (bzw. das X zum Y) wahrgenommen und das prägt sich beim Kind noch ein, bevor wir sprechen lernen, ist also eine viel tiefer im Gedächtnis verankerte Information als unser Name. Der Begriff Kastrationsangst (durch inflationäre Verwendung in den vergangenen 100 Jahren seiner Sinnhaftigkeit beraubt) ist also nichts anderes als eine Angst ein Identifikationsmerkmal zu verlieren, welches sowohl bzgl. der eigenen Identität als auch der Wahrnehmung der Außenwelt grundsteinlegend in der psychosozialen Entwicklung war. Darum ist jede Geschichte eines Mannes, der seiner Außenwelt beweisen will, dass er etwas erreichen kann (in den meisten Kulturen durch aggressiv eroberndes oder verteidigendes Verhalten) erst mal die Geschichte eines Mann, der auch gegen seine Kastrationsangst kämpft. Spielberg und kein anderer (männlicher) Künstler kann sich dagegen erwehren. Dass die literarischen Wurzeln und die kreativen Schöpfer des Werkes andere bewusste Gedanken bei der Erschaffung ihres Werkes hatten, ist dabei ja nicht opponierend, sondern im Gegenteil ergänzend. Bilder, die mit der Kastrationsangst schon auf Affektebenen spielen, hat DER WEISSE HAI übrigens einige. Am berühmtesten und ofensichtlichsten ist wohl das zu Boden sinkende, abgetrennte Männerbein, bei dem ich aufgrund der Nähe des Abbisses zum Schambereich schon als Jugendlicher (und nicht nur ich) instinktiv-affektiv an mein Gehänge dachte, ohne dass mit genaueres von Freud und Konsorten bekannt gewesen wäre. Es wäre also tatsächlich noch nicht mal auszuschließen, dass Spielberg und seine Crew nicht zumindest spielerisch bewusst damit umgegangen wären.

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  9. Ein weiterer wichtiger Punkt wäre mir deutlich zu machen, dass die Interpretation eines Werkes doch nicht damit abgeschlossen ist, dass man an ihm psychoanalytisch oder wie auch immer herum analysiert. Ich bin eher ein Vertreter eines fluiden Ansatzes. Eine Interpretation muss in sich schlüssig sein und am Werk belegbar. Tatsächlich ist sie aber nie wirklich abgeschlossen, da es gar nicht möglich ist, alle Kodierungen, kulturellen, historischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Aspekte zu berücksichtigen. Jede Interpretation bleibt in Bewegung. Wer sie als abgeschlossen betrachtet, ist nur zu faul zum weiterdenken ;). Deswegen kann die Ebene des Autors natürlich ebenfalls mit einfließen und es freut mich sogar, weil es wohl meiner Eitelkeit schmeichelt, wenn der Erschaffer des Werkes und ich auf einer Wellenlänge sind. Detektiv spiele ich deswegen aber noch lange nicht. Es geht mir keinesfalls darum, die genauen Intentionen des Autors zu ermitteln und diesem dann alleinige Gültigkeit einzuräumen. Zumal der Autor doch selbst auch nur eine begrenzte Perspektive hat. Er ist schließlich auch nur ein Mensch, so wie ich, und kann auch unmöglich alles, was sein Werk geprägt hat, erfassen und berücksichtigen.

    Und noch zwei Kleinigkeiten:

    1. Die Möglichkeit DER WEISSE HAI psychoanalytisch zu interpretieren wurde von Norbert Stresau - aber bestimmt auch von anderen - aufgebracht und wurde von mir oben nur erwähnt. Ich würde nie eine rein psychoanalytische Deutung über einen Film machen. Dafür bin ich zu eklektizistisch oder sagen wir besser: zu interdisziplinär. Das klingt freundlicher.

    2. Ich denke nicht, dass Spielberg bzw. seine Filme eine Rückkehr zur WASP-Familie thematisieren, sondern ich verwies auf das Ende von DUELL im Hinblick auf soziopolitische Entwicklungen und Umbrüche seiner Entstehungszeit und das man den Blick der Hauptfigur zum Schluss auch so deuten könnte, dass er sich, nachdem er sich seiner Kastrationsnagst gestellt hat (sorry, dass musste jetzt sein), seine gesellschaftliche Rolle neu definieren muss. Eine Überlegung, die mir im Hinblick auf die Besetzung dann gekoppelt schien an amerikanische Ur-Werte bzw. was als Pop-Mythos kolportiert wird. Der Begriff des WASP (gar nicht mal so negativ von mir gemeint, wie man den Begriff manchmal verwendet) wirkt auf "Rauchende Colts"- und "Ein Sheriff in New York"-Cowboy-Urgestein Dennis Weaver nicht unpassend. Genauso wie die mit diesem Besetzungskniff aufgeladene Symbolik.

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  10. Ohne mich in eure Diskussion groß einmischen zu wollen (für die mir * shame on me * zugegebenermaßen die Kompetenz in puncto Psychologie fehlt), möchte ich als guter Gastgeber doch noch einmal mein Interesse an den hier vorgetragenen Thesen und ihrer Ausführlichkeit bekunden :)

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  11. Öhm, bevor hier die Dinge auf ein falsches Gleis geraten: Studierter Psychologe bin ich nicht und werde mich ebenfalls zu vielen Punkten, die der Außenseiter hier sehr ausführlich, aber gut fasslich ausgebreitet hat, schwerlich äußern können. Mir ging es eher um die Grenzen bestimmter Interpretationsmethoden von Kunstwerken, in diesem Fall Filmen. Grenzen, die zum einen durch die innere Fragwürdigkeit bestimmter Theoriekomplexe, wie der klassischen Freudschen Psychoanalyse, bestimmt werden, zum anderen durch die meiner Meinung nach nicht zu den interessanten künstlerischen Kernen des Films vorstoßenden Fragerichtungen bestimmter psychologischer Methoden. Ich werde versuchen, dass ich diese Einwände am Wochenende wenigstens grob an ein paar Beispielen aus dem Film belegen kann. Das Gespräch sollte sich schon nahe am Film bzw. an Hitmanskis Text entlang bewegen. Den zitierten Stresau z.B. habe ich nicht gelesen.

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  12. @ Sieben Berge

    Im Grunde sind wir uns einig.

    Denn hier:
    "Ja, ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass ich eine regelrechte Abneigung dagegen habe, dass psychoanalytische Deutungen (vorschnell) an Werken vorgenommen werden und oft dann auch geglaubt wird, man habe die Möglichkeiten des Werkes damit dann ausgeschöpft."

    und hier:

    "Ein weiterer wichtiger Punkt wäre mir deutlich zu machen, dass die Interpretation eines Werkes doch nicht damit abgeschlossen ist, dass man an ihm psychoanalytisch oder wie auch immer herum analysiert. Ich bin eher ein Vertreter eines fluiden Ansatzes. Eine Interpretation muss in sich schlüssig sein und am Werk belegbar. Tatsächlich ist sie aber nie wirklich abgeschlossen, da es gar nicht möglich ist, alle Kodierungen, kulturellen, historischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Aspekte zu berücksichtigen. Jede Interpretation bleibt in Bewegung."

    decken wir uns vollkommen.

    Es ging mir vorrangig darum herauszustellen, dass die Psychoanalyse strukturell ein universelles Prinzip ist und erst ab dem Zeitpunkt der Individualtherapie zu einer Individualanwendung führt. Dass sich eine Interpretation damit nicht erschöpft, erwähne ich ja in den Zitaten. Vermutlich liegt in dem universellen Prinzip einer der Gründe verborgen, warum psychoanalytische Deutungen in den letzten 100 Jahren beliebig angesetzt wurde, da es immer erst mal gewichtig klingt, wenn man mit solchen Termini herumhantiert und man dann glaubt, das Werk ausreichend erfasst zu haben.

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